Deutschsprachige Erstaufführung im Kleinen Haus des Staatstheaters
von
Edda Hayen
Am 23. August hatte das umstrittene Stück Utøya im Kleinen Haus des Oldenburgischen Staatstheaters seine deutschsprachige Erstaufführung.
Mit der Insel Utøya verbindet man unweigerlich ein grausames Massaker. Der italienische Autor Edoardo Erba stellt in seinem Theaterstück jedoch nicht die Gewalttat in den Vordergrund, sondern widmet sich drei unabhängig voneinander erzählten Geschichten. Eine Polizistin, die sich die Frage stellt, ob man auch ohne Einsatzbefehl einschreiten muss, wenn Kinder in Gefahr sind. Eltern, die nicht wissen, ob ihre Tochter noch lebt. Und von Nachbarn (Bruder und Schwester) Breiviks, die ihrem mulmigen Gefühl besser gefolgt und zur Polizei gegangen wären. Sie alle sind verbunden durch die Ereignisse am 21. Juli 2011. Der Autor zeichnet mit diesen unterschiedlichen Perspektiven ein sensibles Bild der norwegischen Gesellschaft.
Ich bin mit einem mulmigen Gefühl in die Aufführung gegangen. Für mich war auch die Einführung sehr wichtig, um mir noch einmal zu verdeutlichen, was genau damals passiert war. Die Ohnmacht der norwegischen Polizei war mir nicht mehr so präsent. Auch das es Andreas Breivik wichtig war, unbedingt für zurechnungsfähig erklärt zu werden, um damit seiner Tat Bedeutung zu verleihen, hat mich wieder erschreckt.
Die Aufführung hat mich von Anfang an in ihren Bann gezogen. Es war bedrückend, erschreckend, man hat mit den Eltern mitgefiebert, ob die Tochter noch lebt, war gespannt, ob die Polizistin ihren vorgesetzten Kollegen doch noch überzeugen kann, und traurig, weil die Nachbarn vielleicht doch im Vorfeld das Massaker hätten verhindern können.
Besonders begeisterte mich die Verwebungen des Spieles der drei Paare. Teilweise liefen die Geschichten nebeneinander her. Schauspieler kommen von verschiedenen Positionen auf die Bühne. Auch dass ein Teil des Publikums oben auf der Bühne sitzt, hat für mich das Gefühl gefördert, komplett in der Geschichte zu sein. Das Bühnenbild ist reduziert gestaltet. Es ist einem Fähranleger nachempfunden und jeder möchte auf diesem sein und in einem Boot helfen fahren.
Das Stück lässt auch noch Raum für eigene Spekulationen.
Nach der Vorstellung haben sich alle (!) Schauspielerinnen und Schauspieler zu einem Nachgespräch mit dem Publikum getroffen. Hier meinen absoluten Respekt für Janine Kreß, Helen Wendt, Franziska Werner, Matthias Kleinert, Thomas Birklein und Fabian Kulp, die ein emotionales Stück gespielt haben und sich dann noch die Zeit für ihr Publikum genommen haben. Ich habe festgestellt, wie schwer es sein muss, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen, um das Stück so transportieren zu können. Auch ihre Antworten im Nachgespräch spiegeln dies absolut wider. Die bereitgestellten Bieruntersetzer, auf denen Fragen notiert werden konnten, wurden nicht benötigt, da das Publikum und auch die Schauspieler_innen schnell ein anregendes Gespräch geführt haben und eine Diskussion entstand.
Auch ein großes Lob an die Dramaturgin Anna-Therese Schmidt, die sowohl die Einführung als auch das Nachgespräch einfühlsam, informativ und interessant gestaltet hat.
Ein gelungener Themenabend im Kleinen Haus. Unbedingt zu empfehlen für jeden, der sich nicht scheut sich damit auseinander zu setzen und auch im Nachhinein noch mal Gedanken darüber machen möchte.
Zum Hintergrund
Der Tag, der Norwegen veränderte, ist uns allen sicher noch im Gedächtnis. Der 22.Juli 2011 hat das Land, das bis zu diesem Zeitpunkt als friedliebend bekannt war, zum Mittelpunkt eines der schlimmsten Attentate der Nachkriegszeit gemacht. Am Nachmittag explodierte eine Bombe im Regierungsviertel Oslos, dabei verloren 8 Menschen ihr Leben.
Die ersten Informationen, die die Medien damals herausgaben, griffen auf das Motiv des Islamismus zurück. Sie hatten keine näheren Informationen, und schließlich lag der 11. September 2001 gerade erst 10 Jahre zurück. Die Attentate von Madrid und London waren in den Köpfen der Menschen noch fest verankert. Während Experten_innen noch Indizien auswerteten, fuhr Andreas Breivik ungestört auf der E16 Richtung Utøya, einer 40 Kilometer entfernten Insel nordwestlich von Oslo.
Der 32-jährige Norweger verfolgte einen Plan, den er in den letzten Jahren akribisch entwickelt hatte. Aus seiner Sicht musste der in seinem Land immer weiter um sich greifende Islamismus gestoppt werden. Er wollte die bestrafen, die dieses auch noch unterstützen: die sozialdemokratische Regierung. Der erste Teil seines Plans ist aufgegangen, die Bombe im Regierungsviertel ist explodiert. Er hatte Monate damit verbracht, die Bombe zu bauen. Er hatte sich zur Tarnung einen Hof gemietet. Der zweite Teil seines Plans war das auf der Insel Utøya stattfindende Sommercamp der sozialdemokratische Arbeiterpartei, das jedes Jahr mit fast 600 Jugendlichen organisiert wurde.
Als verkleideter Polizist gab er am Ableger vor, aufgrund der jüngsten Ereignisse in Oslo über die Sicherheitslage informieren zu sollen. Das wurde vom Personal für plausibel gehalten, und Breivik fuhr mit der Fähre zur Insel. Der schwer bewaffnete Breivik kam um 17.15 Uhr auf der Insel an. Erst um 18.25 Uhr traf das Sondereinsatzkommando der Polizei ein. Sie nahmen den Attentäter fest – bis dahin hatte er bereits 69 Menschen erschossen.
Schon bald berichtet die Presse vom norwegischen Täter, ohne islamistischen Hintergrund. Das Land stand unter Schock. Das Selbstverständnis, ein friedliches Land zu sein, war empfindlich getroffen worden, auch konnte die Schuld keiner äußeren Gefahr zugeordnet werden. Norwegen hatte seine Unschuld endgültig verloren.
Der Prozess für Andreas Breivik begann im April 2012. Nachdem man ihn in zweiter Instanz für zurechnungsfähig erklärt hatte, wurde er zu 21 Jahren Haft verurteilt.
Nicht nur das Land hatte es eiskalt erwischt, auch die Polizei war völlig überfordert. Nach der Explosion beorderte die Polizeidirektion alle zur Verfügung stehenden Einsatzkräfte in das Regierungsviertel in Oslo. Es wurden jedoch keine Polizisten ausgesandt, den Täter zu suchen. Ein Passant hatte der Polizei gemeldet, Breivik auf dem Weg zum Fluchtauto mit der Waffe in der Hand gesehen zu haben. Dieser Hinweis wurde von einer Sekretärin mittels eines Zettels auf den Schreibtisch ihres Vorgesetzten weitergeleitet. Dieser wurde erst viel zu spät entdeckt.
Weder wurden die umliegenden Polizeistationen über die Lage informiert, noch dazu aufgefordert, die ihnen unterstellten Straßen zu kontrollieren. Auch als die Ereignisse nach und nach bekannt wurden und einige Streifenpolizisten sich anboten, die Situation zu unterstützen, lehnte die Zentrale ab. Das Chaos sei groß genug, sie sollten sich zunächst bereithalten.
Die Norweger verfügen nur über einen einzigen Polizeihubschrauber. Die Piloten befanden sich zu diesem Zeitpunkt alle im Urlaub. Einer der Piloten meldete sich zum Dienst, als er die Nachrichten gesehen hatte, er erhielt allerdings die Antwort, er werde nicht gebraucht.
Als die ersten Handy-Notrufe von Utøya registriert wurden, wurde ein Sondereinsatzkommando alarmiert, welches sich 3,6 km entfernt positionierte. Erst um 18.11 Uhr machte sich ein Polizeischlauchboot auf den Weg. Ein Fährableger, nur 600 m entfernt, wäre strategisch günstiger gewesen. Es befanden sich 11 Polizisten an Bord, deutlich zu viele, und nach wenigen Minuten fiel der Motor aus. Zu diesem Zeitpunkt waren schon freiwillige Helfer mit privaten Booten unterwegs, um Jugendliche zu retten, die panisch vor Angst ins Wasser gesprungen waren. Um 18.25 Uhr erreichten endlich die ersten Polizisten die Insel. Breivik ergab sich, sobald er den ersten Polizisten gesehen hatte.
Weitere Informationen und Aufführungstermine auf der Internetseite des
Oldenburgischen Staatstheaters.