Wo wilde bunte Bienen, schnelle Meisen und gaukelnde Falter sich ein Stelldichein geben
Der 7-jährige Alexander schob die Balkontür zur Seite und trat hinaus in den gleißenden Sonnenschein, der ihn hier, immerhin stolze 14 Meter - so hatte er seinen Mitschülern berichten können - über dem Gehweg der viel befahrenen Straße umfing, mit jedem Zentimeter, den er weiter ging. Und schon stand er an seinem Lieblingsplatz, dem Platz, der für ihn spannender war als die Spielekonsole, der Besuch im Zoo und auch der im Freibad: vor dem Insektenhotel, wie es seine Mutter stets nannte, die auch nie vergaß, mit einem schelmischen Lächeln hinzuzufügen: dem Hotel »mit den zweihundert Zimmern, in denen selten was frei ist und Gäste nie bezahlen müssen.« Alexander hatte wieder seine Lupe dabei. Ui, war das spannend! Er schaute genau hin. Ganz genau. Aus einem der verdeckelten Köcher - er hatte die Wildbiene vor vierzehn genau beobachten können, als sie wieder und wieder an das Loch, das sein Opa in das harte Eichenholz gebohrt hatte, zurückgekehrt war, um es zu verschließen - schien sich etwas den Weg in die sonnenverwöhnten Freiheit hinaus bahnen zu wollen. Ganz zart noch, war doch erkennbar, dass hier eine junge Wildbiene den Weg hinaus fand in die Welt, in eine Welt der Blüten, aber auch der Gefahren. Eine weitere, winzige, bunt schillernde Wildbiene auf dem Weg in die Welt. Und Alexander war dabei gewesen!
Alexander war und ist nicht der einzige, der ein »ganz besonders interessantes und unerwartetes« Reservat erlebt. Ein - sagen wir - Mini-Naturschutzgebiet - und dies dort, wo wir es am allerwenigsten erwarten werden: über den Straßen der Stadt, vielleicht sogar der brodelnden Großstadt. Auf dem Balkon!
Balkone gibt es zu Millionen in Deutschland. Manche sind gerade so groß, dass man darauf Luft schnappen kann. Andere sind fünfzig, hundert oder gar dreihundert Quadratmeter groß. Würde man ihre Grundfläche zusammenzählen, käme ein riesiges Gebiet heraus, dessen Größe sicher einer Großstadt gleichen würde! Grund genug für den Naturschutzbund NABU, darauf hinzuweisen, welche »ungeheuren Möglichkeiten bestehen, jeden Balkon zu einer Mini-Serengeti, einem kleinen Schutzgebiet vor der Glastür« zu machen, wie es Rüdiger Wohlers, NABU-Bezirksgeschäftsführer im Oldenburger Land und selbst Inhaber eines fast fünfzehn Meter langen Balkons im dritten Stock, hoch über den Dächern der norddeutschen Großstadt, formulierte.
»In diesen Tagen rasanter Naturzerstörung und des galoppierenden Klimawandels kommt es auf jeden Quadratmeter an«, sagte Wohlers, »aber man wird dann, wenn man versucht, Natur auf den Balkon einzuladen, auch sehr schnell spüren, wieviel Freude das macht, weil jeden Tag neue Arten entdeckt werden können!«, lacht der Naturschützer, der mit seiner Frau mittlerweile mehr als 150 Pflanzenarten auf seinem Balkon heimisch gemacht hat - vom Maurerkübel, der zum Mini-Teich mit Fieberklee, Froschlöffel, Rohrkolben und Igelkolben wurde und an dem sich regelmäßig Libellen niederlassen, bis zur Felsenbirne, die, im großen Topf, Vögeln auch im Herbst noch Nahrung bietet, dem Zaunkönig, der gleich drei Nester auf dem Balkon zwischen Töpfen mit Schlehen, Holunder und Pflaume anlegte (von denen eines auch erfolgreich bebrütet wurde) bis hin zum Kleiber-Nistkasten, den - ganz klar - vier Insektenhotels, der Vogeltränke und dem kleinen Hummelnistkasten, der auch bereits Bewohner fand. »Jeder Tag auf dem Balkon ist ein Entdeckertag«, sagt Wohlers. »Die ökologische Funktion von Balkonen - auch die für den Klimaschutz - wird landläufig noch völlig unterschätzt«, betont der NABU-Geschäftsführer. »Kaum jemand ahnt, dass man insbesondere auf Balkonen, auf denen es ruhigere Ecken gibt, durchaus Nistkästen anbringen kann. Ich habe bereits Meisen-, Kleiber- und Sperlingsbruten bis zum sechsten Stock gesehen«, berichtet Wohlers. Selbst Tagesquartiere für Fledermäuse könnten dort angebracht werden, auch Spezialnistkästen für Mauerseglerkästen ließen sich erfolgreich einsetzen - für »die« Sommervögel schlechthin, die von Mai bis August ihre wendigen Flugschweifen durch die Straßenschluchten drehten. Und auch für die gaukelnden Falter kann durch die Schaffung eines geeigneten Blütenhorizonts aus Stauden und Wildpflanzen einiges erreicht werden. »Natürlich finden dort insbesondere Kinder ihren Naturbezug«, betont der NABU-Geschäftsführer: »Das Erlebnis, am Insektenhotel das Schlüpfen der jungen Wildbienen live beobachten zu können, ist durch keinen Fernsehfilm, durch keine Computerbilder ersetzbar!«
Damit möglichst viele Balkone zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen, zwischen Aachen und Görlitz in diesem Jahr zu kleinen Archen werden, hat der NABU ein sehr umfangreiches Info-Paket aus besonders gut geeigneten, ratgebenden Broschüren zusammengestellt, die alle Bereiche des naturnahen Gärtnerns umfassen, darunter auch ausführliche Baupläne für Nisthilfen für Vögel, Fledermäuse und Insekten. Dieses Info-Paket kann gegen Einsendung von 10 Euro angefordert werden beim NABU, Stichwort »Balkon als Arche«, Schlosswall 15, 26122 Oldenburg.